Wenn ich nicht meine Freunde und Familie hier hätte, weiß ich nicht, ob ich so viel Zeit in Venedig verbringen würde, wie ich es tue. Gerade erst habe ich eine Liste von Städten mit der größten Luftverschmutzung in der Zeitung gesehen. Eine von ihnen war Venedig. Denn unglücklicherweise wurde Marghera daneben gebaut.

Marghera bedeutet Kilometer von Chemiefabriken. Es ist einer der verschmutztesten Orte in Italien. Hin und wieder schließt ein Richter die Fabriken. Aber sobald er dies tut, kommen die Arbeiter und streiken. Und weil ein paar tausend Menschen gerne ihre Jobs behalten wollen, geht dieses Zeug weiter in die Luft. Selbst die Kanäle in Venedig stinken. Dabei habe ich Venedig immer verteidigt und gesagt: Nein, es stinkt nicht! Aber das tut es.

Als ich nach Venedig kam, konnten die Menschen hier noch in den großen Kanälen baden. Hin und wieder sprangen Kinder einfach von den Brücken oder Ufern. Heute wäre das Erlebnis, in einen dieser Kanäle zu fallen, eine so widerliche Erfahrung, dass man sie lieber erst gar nicht überleben möchte.

Doch wie wohl jeder mit Mitte 60 schaue ich mich um und denke: „Wo soll ich sonst hingehen?" Warum sollte ich irgendwo leben, wo ich niemanden kenne? Wo ich nicht weiß, wo es einen guten Büffel-Mozzarella gibt? Wo ich den Müllmann oder den Postboten nicht kenne? Es gibt keinen anderen Platz auf dieser Welt, an den ich gehen könnte. Venedig ist mein Zuhause. Hier steht meine Waschmaschine.

Donna Leon ~ Donna Leon wurde 1942 in New Jersey geboren. Nach Aufenthalten in England, der Schweiz, China, Saudi-Arabien und dem Iran lebt sie seit 1981 in Venedig. Dort entstand 1992 ihr Erstling "Venezianisches Finale". In ihrem jüngsten Roman "Blutige Steine" löst Commissario Brunetti bereits seinen 16. Fall. Den größten Erfolg haben die Leon-Krimis in Deutschland. In
Italien werden sie nicht veröffentlicht, da die Autorin in Venedig weiter anonym leben möchte.